erschienen in ’Ariochs Offenbarungen 28’

Porta Auregia

"Buon giorno, buon giorno! Signore! Signora! Welch wunderschöner Tag, die Stadt zu besuchen. Ich bin Giuseppe. Darf ich Euch helfen, die Koffer an Land zu bringen?"

Der kleine, drahtige Mann mit dem feinen Schnurrbart und den schwarzen Haaren lächelt gewinnend, während er dem Schiffsjungen die Koffer im Tausch gegen eine Kupfermünze abnimmt. Gut investiertes Geld, ist er sich sicher. Das kymbrische Paar ihm gegenüber sieht sich verwirrt um. War die Reise auf dem Tonfo, der sie von Kymbria hierher gebracht hat, noch sehr beschaulich verlaufen, so herrscht hier im Hafen von Porta Auregia ein quirliges Treiben.

"Danke, aber wir kommen selbst zurecht. Wir werden erwartet. In der Nationalbibliothek.", wehrt der hochgewachsene, in wertvollen Brokat gehüllte Mann ab, während die junge Frau an seiner Seite ein Grinsen hinter einem Seidentuch verbirgt. "Das trifft sich gut. Ich muß zufällig in die gleiche Richtung und kenne die schnellsten Fährverbindungen durch die Stadt. Per favore, hier entlang." "Aber ..." setzt der Reisende zu einem Widerspruch an, wird aber von seiner Begleiterin mit einem Stoß in den Rücken in Bewegung gesetzt.

Die kleine Gruppe schiebt sich durch die geschäftige Menge zu den Landungsstegen der Vaporettos. Holzschilder bezeichnen die Ziele der Linienschiffe, die im trägen Wasser des Sèrpeverde tümpeln. Giuseppe, in jeder Hand eine Tasche, geht zielsicher auf ein kleines rot-weißes Schiff zu. Er nickt dem Kapitän zu und dreht sich zu den beiden um.

"Zwölf Kupfer, wenn ich mich recht entsinne, Signore ...?"

"Turner. Cornelius Turner. Und das Boot bringt uns sicher über den Fluß? Ich sehe weder Segel noch Ruder."

Der Kapitän hält sich den dicken Bauch. "Ho-ho! Und ob. Die Rossa Amica ist ein Prachtstück und die Flußgöttin ist ihr wohl gesonnen. Grazie, ecco gli biglietti. Kommen Sie an Bord, wir legen gleich ab."

Sie suchen sich einen freien Platz an Deck unter dem Sonnendach, wo bereits ein Dutzend Personen verschiedenster Herkunft warten. Zwischen den Gepäckstücken, Hühnerkäfigen und Passagieren eingezwängt erleben sie, wie das Schiff vom Steg abgestoßen wird und in den Fluß dreht. Plötzlich spannen sich mehrere Taue, die vom Bug ins Wasser hängen, in Richtung Flußmitte und die Amica schwingt herum. Giuseppe grinst beim Anblick der verdutzten Gesichter seiner Begleiter.

"Il Capitano hat nicht gelogen, oder? Der Zauber hat ihn aber auch eine schöne Menge Gold gekostet. Wir hier in Porta Auregia", er deutet mit einer weltmännischen Geste auf die Häuser an beiden Ufern, "leben mit der Magie. Sei es die Straßenbeleuchtung oder die Haltbarmachung von Lebensmitteln, der Schutzzauber an den Pforten des Palastes oder die Heilung eines gebrochenen Knochens, alles nur eine Frage der Geldbörse, wenn Ihr mich versteht."

Inzwischen hat das Schiff die Flußmitte erreicht und steuert stromabwärts. Mehrere Linienschiffe kreuzen seinen Weg ebenso wie schwerfällige Frachtkähne, Truppentransporter und die Parade-galeere eines Barons. Die meisten Schiffe werden allerdings von Ruderern fortbewegt. Hinter ihnen verschwindet der Hafen mit den Flottendocks langsam in der Ferne. Rechts voraus, an den Hängen eines Hügels, türmen sich Palast über Palast, gekrönt von glänzenden Türmen, auf denen rot-goldene Banner im Wind wehen.

der Palast des Imperators, von der Verwaltungsinsel gesehen

"Fortezza d'oro, die Residenz des Imperators. Ihr werdet wohl kaum Gelegenheit bekommen, sie zu betreten. Man erreicht sie von dieser Seite nur über die Prima Ponte, die Brücke von der Magistratsinsel, und die ist an beiden Enden durch die Palastgarde gesichert. Auf der anderen Seite des Palastberges, zwischen den beiden Stammgarnisonen, liegt das Haupttor und die Triumphallee. Die meisten offiziellen Besucher nehmen diesen Weg."

Die Kymbrierin deutet auf das linke Flußufer. "Was ist das für ein Bezirk? Die Häuser sehen sehr alt aus."

"In der Tat, Signora ..."

"Signorina Isabel Turner. Ich begleite meinen Vater ..." Da legt Cornelius seine Hand auf ihren Arm. "Ja, sie begleitet mich auf meiner Studienreise. Was ist nun mit diesem Stadtteil? Wieso duldet man solchen Verfall direkt unter den Augen unseres Herrn?"

"Eine gute Frage. Das dort ist der alte Markt. Er ist von vielen kleinen Canali durchzogen und nirgendwo in der ganzen Stadt findet Ihr so viele seltene Gewürze und Speisen. Durch seine Lage, gegenüber dem Hafen, ist der Nachschub gesichert und die Preise sind angemessen. Und das Birra in den Ufertavernen ist über alle Grenzen berühmt. Aber seid vorsichtig, wenn Ihr den Markt in der Nacht durchquert. Manch Gesindel hat dort sein Revier. Eine wahre Schande für die Stadt. Man sollte endlich etwas dagegen unternehmen!" "Vater, sieh nur!" Isabel springt auf und zeigt auf eine Insel im Fluß, auf die das Boot zusteuert. "Die seltsamen Häuser. Und die Kraniche. So viele!"

Ihr Führer nickt verstehend. "Die Tempelinsel. Dort findet Ihr die letzten Ruinen der alten Stadt, die hier vor Tausenden von Jahren stand. Nirgendwo sonst sind sie erhalten geblieben. Die Kraniche gehören zu Astaris, der gefiederten Göttin, die dort ihre heilige Halle hat. Genau wie alle anderen Götter."

"Bedeutet das, daß jeder Kult dort eine Niederlassung hat?", erkundigt sich Cornelius.

"Sì! Und nicht nur irgendeine, sondern den Hauptsitz. Das ist hier Gesetz. Sobald eine Religion offiziell anerkannt wird, muß sie einen der alten Tempel auf der Insel übernehmen."

Das Schiff erreicht die Insel, und ein Teil der Passagiere wechselt. Devotionalienhändler bieten den Neuankömmlingen ihre Ware am Pier an. Die seltsam geschwungene Architektur einiger Gebäude steht wirklich im krassen Gegensatz zum vorwiegend geradlinigen, hoch aufstrebenden, römisch anmutenden Kolossalstil der offiziellen Bauwerke und Paläste. Auf den Plätzen zwischen den Tempeln stehen Menschengruppen um Prediger, die ihre Botschaft unters Volk bringen. Zwei liefern sich ein hitziges Streitgespräch, das von einem Dritten, der in die blaue Tunika eines Magistrats-sklaven gekleidet ist, mitgeschrieben wird. Als einer ein besonders treffendes Argument einbringt, bricht seine Anhängerschar in lautes Johlen aus.

Nach fünf Minuten, in denen Giuseppe seinen beiden Begleitern von den Festen zu Ehren der Götter erzählt, legt das Schiff wieder ab und setzt seine Reise flußabwärts fort. Eine Galeere mit bunten Segeln nähert sich den Piers am Fuß des Palastes, die noch außerhalb der Palastmauern liegen. Eine Abteilung der Palastgarde wartet dort bereits auf den Besucher.

ein Beamter des ImperatorsVor ihnen liegt nun die Verwaltungsinsel, durch Brücken mit dem Palast, den Tempeln und dem Ostufer verbunden. Die säulenüberladenen Steinquader strahlen Ordnung und Macht aus. Magistratsfähren nähern und entfernen sich aus allen Richtungen. Obwohl sie wesentlich kleiner sind als die Rossa Amica, macht der Kapitän ihnen bereitwillig Platz.

"Ihr habt Eure Aufenthaltsanträge schon abgegeben?", wendet sich Giuseppe an Cornelius.

"Ja, wir mußten bereits auf dem Schiff erklären, wer wir sind, was wir hier wollen und warum unsere Großmütter unsere Großväter geheiratet haben."

"Na ja, manchmal schießt das Gastamt etwas übers Ziel hinaus. Da drüben, der niedrige Trakt am Kai ist es übrigens. Das große Gebäude dahinter ist das Einwohnermeldeamt, daneben die Abwasserbehörde, überragt vom Marktamt, das wiederum zwischen Stadtgartenamt und Sklavenverwaltung ..."

"Halt, halt, das kann sich ja kein normales Wesen merken! Wie findet Ihr Euch hier nur zurecht?", wundert sich Isabel.

"Dafür haben wir das Fundamt. Non ho problema. Ihr müßt verstehen, bei über einer Million Einwohner ist ein gewisses Maß an Ordnung notwendig. Bei uns geht niemand verloren. Angeblich soll einmal ein Soldat verschwunden sein. Aufgrund von Zeugenaussagen und den Aufzeichnungen des Magistrats wurde festgestellt, daß er eines Nachts betrunken in einen Brunnen gefallen sein muß."

"Und, habt Ihr ihn gefunden?"

"No, Signorina, aber der Brunnenschacht wurde zugemauert. Schließlich kann man doch nicht riskieren, daß jemand am Leichengift erkrankt."

Wieder legt ihr Schiff ab. Links, am Ostufer, erstrecken sich lange Uferalleen und dahinter, die sanft ansteigenden Hänge bedeckend, Gärten und Palais. Giuseppe lehnt neben Cornelius an der Reling und betrachtet die Prachtbauten.

"Dort liegen die Wohnbezirke der reichen Bürger und der Beamten des gehobenen Verwaltungs-dienstes. Wer dort lebt, hat zumeist ausgesorgt. Hinter den Hügeln findet man die niederen Beamten und die Handwerker, und dann kommen die Waffenschmieden und Garnisonen, aber hier merkt man davon nichts. Das große Armeelager liegt im Norden der Stadt."

Vor ihnen mündet von rechts der Tonfo in den Sèrpeverde und markiert dadurch das Ende des Palastes. Südlich davon erhebt sich noch ein weiterer Hügel, der nicht ganz die Höhe des Palastes erreicht. Die Gebäude darauf wirken alt, die Gassen eng und verwinkelt. Manche Häuser scheinen auf anderen zu sitzen. Größer könnte der Gegensatz zur Verwaltungsinsel nicht sein.

ein Beamter des Imperators"Dort, das ist Euer Ziel. Der kymbrische Bezirk. Auf der linken Seite des Hügels, seht Ihr die rechteckigen Türme und die roten Dächer? Das ist die Nationalbibliothek. Entlang der Flußufer sind die Siedlungen für Beamte des mittleren Dienstes." "Warum konnten wir dann nicht dort aussteigen? Wir hätten uns den langen Umweg erspart."

"Diese Kais sind nicht für die großen Schiffe ausgelegt, Signore. Und außerdem muß alles seine Ordnung haben. Gewöhnliche Schiffsreisende betreten die Stadt an den Docks, so will es eine Verordnung. Ausnahmen gibt es nur mit Genehmigung des Fremdenamtes oder für Adelige aus den Baronien."

Mit einem sanften Ruck lehnt sich die Rossa Amica an den Landungssteg. Giuseppe hilft den beiden Turners mit ihrem Gepäck an Land. "Gut. Folgt dieser Straße bis zum Platz der Buchbinder. Dort wendet Ihr Euch nach links. Ihr kommt dann direkt zur Bibliothek. Und ich bekomme noch 20 Kupferstücke für die Führung."

Cornelius hebt die rechte Augenbraue. "Führung? Aber ich habe keine Führung verlangt."

"Das macht keinen Unterschied. Laut Gesetz reicht es, daß Ihr die Leistung in Anspruch genommen habt. Außerdem habe ich Euch einiges an Zeit und Geld gespart. Ein Einzeltransport hätte Euch mindestens 1 Silber gekostet."

Murrend holt Cornelius seinen Geldbeutel vom Gürtel und bezahlt die Rechnung. Giuseppe verbeugt sich vor ihm, dann nochmals etwas tiefer vor Isabel und besteigt wieder die Rossa Amica. Während die beiden in der Ferne verschwinden, kratzt er sich nachdenklich den Bart. Der Bericht für den Magistrat wird ihm nochmals 25 Kupfer bringen. Kein schlechter Verdienst für zwei Stunden Arbeit.

© 1999 Hanns Weschta